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Art in Democracy - Sculptura #2

Mit der zweiten Ausgabe des Brüsseler Sculptura-Festivals werden nicht nur das Können und die Kreativität von Kunstschaffenden aus ganz Europa gefeiert, sondern auch das einzigartige künstlerische Erbe und die heutige Vision der jeweiligen Länder präsentiert. Zum ersten Mal wird eine Auswahl von Skulpturen aus der Sammlung zeitgenössischer Kunst des Europäischen Parlaments auf Sculptura ausgestellt, um unterschiedliche Perspektiven, Stile und kulturelle Hintergründe zusammenzubringen.

Die Auswahl der Skulpturen dient dazu, die Beziehung zwischen Kunst und Demokratie zu erforschen, wie sie in der Sonderausstellung Art in Democracy, zum Ausdruck kommt. Die Sonderausstellung kann bis zum 7. Januar 2024 im Parlamentarium in Brüssel, bis zum 18. September 2024 im Besucherbereich des Europäischen Parlaments in Straßburg und bis Ende Juni 2024 im Rahmen einer Besichtigung des Plenarsaals in Brüssel besucht werden.

Warum „Art in Democracy“? Was ist Demokratie? Warum setzt sich die Europäische Union für demokratische Werte ein? Die ausgestellten Kunstwerke tragen dazu bei, diese Fragen zu beantworten. Sie veranschaulichen außerdem, was Demokratie für bildende Kunstschaffende aus verschiedenen Staaten Europas darstellt. Gezeigt werden die kritischen und persönlichen Visionen jedes der genannten Kunstschaffenden, die durch ihre Kunst klar für die Demokratie eintreten. Ihre Kunstwerke verdeutlichen, dass die demokratischen Rechte und Freiheiten aufrechterhalten werden müssen. Sie erinnern uns auch daran, dass die Bürgerinnen und Bürger der EU bei der bevorstehenden Europawahl im Juni 2024 die Demokratie maßgeblich gestalten, wenn sie ihre Stimme abgeben.

Durch die Beteiligung des Europäischen Parlaments am Sculptura-Festival werden verschiedene Aspekte der Demokratie künstlerisch interpretiert und die Bedeutung für Vielfalt, Inklusion und Meinungsfreiheit hervorgehoben. Dabei fördert die Ausstellung durch ihren immersiven Charakter den öffentlichen Dialog und schafft gleichzeitig ein tieferes Verständnis dafür, wie Kunst dazu beiträgt, unsere demokratische Gesellschaft und ihre Werte zu formen.

Kunst ist ein wirkungsvolles Instrument, das dabei hilft, über verschiedene Themen und Probleme zu sprechen und auf sie aufmerksam zu machen. Einige wichtige Strömungen der zeitgenössischen Kunst durchdringen nicht nur das einfache Erscheinungsbild unseres täglichen Lebens, sondern sie gehen auch darüber hinaus. So nutzen Strömungen mit Namen wie Artivismus, Engaged Art, Gemeinschaftskunst, Ökologische Kunst usw., die Kunst als ein Werkzeug dafür, einen reflektierten und kritischen Blick auf soziale und politische Probleme zu ermöglichen. Kunst kann bewegen und verbinden, uns auf neue Gedanken und Ideen bringen. Sie kann den Ausgangspunkt für einen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern bilden – für vertiefte Gespräche über das, was für die Gemeinschaft von Bedeutung ist. So wird die Kunst zu einem Mittel der Kommunikation, das über Universitäten und Museen hinausgeht und dadurch ein breiteres Publikum erreicht. 

Man darf nicht vergessen, dass die Kunstwerke, die im Rahmen des Sculptura-Festivals und der „Art in Democracy“ ausgestellt werden – sowie viele andere Werke in Sammlungen und Ausstellungen in ganz Europa – vor allem deshalb entstanden sind, weil eine demokratische Gesellschaft es Einzelpersonen ermöglicht, ihre Meinung und ihre Gedanken mit unterschiedlichen Mitteln frei zum Ausdruck zu bringen. Einer dieser Kommunikationskanäle ist die Kunst, wie das Europäische Parlament anerkannt hat:

„Die Förderung der kulturellen Vielfalt in Europa und des Bewusstseins für die gemeinsamen Wurzeln beruht auf der Freiheit des künstlerischen Ausdrucks […].“

Und „[…] dass die gemeinsamen Werte, die unsere Gesellschaften zusammenhalten, wie Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Nichtdiskriminierung, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Solidarität, von grundlegender Bedeutung für die Zukunft Europas sind […]. [Das Europäische Parlament] unterstreicht den wertvollen Beitrag, den die europäische darstellende Kunst zur kulturellen Vielfalt beisteuern kann, sowie ihre Rolle bei der Verbreitung der Werte der Europäischen Union und zur Entwicklung des kritischen Denkens bei den Unionsbürgern […]“

Die vom Europäischen Parlament im Rahmen des Sculptura-Festivals ausgestellten Exponate sowie die gesamte Ausstellung „Art in Democracy“ werden auf einer eigenen Website in 4 Sprachen gezeigt. Dort finden Lehrkräfte außerdem Begleitmaterial in 4 Sprachen, mit deren Hilfe sie das Thema im Klassenzimmer diskutieren und die Schülerinnen und Schüler durch verschiedene künstlerische Aktivitäten zum Nachdenken über die Demokratie und darüber, welche Bedeutung sie für sie hat, anregen können.

Symbole der Europäischen Union

Rodolfo Zilli würdigt Robert Schuman, einen in Luxemburg geborenen französischen Staatsmann, der einer der wichtigsten Architekten der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg war. Der zweimalige Premierminister Frankreichs und reformistische Finanz- und Außenminister diente den europäischen und transatlantischen Institutionen in der Nachkriegszeit und gilt als einer der Gründer der Europäischen Union, des Europarats und der NATO. In Zusammenarbeit mit dem französischen Politiker Jean Monnet erstellte er den international bekannten Schuman-Plan, dessen Veröffentlichungsdatum, der 9. Mai 1950, heute als Geburtsdatum der Europäischen Union gefeiert wird. Die Arbeit mit dem Namen Bust of Robert Schuman (1967) würdigt Schumans visionäre Führungsrolle und seinen entscheidenden Beitrag zur Gestaltung der Zukunft Europas sowie den Versuch, nach der Zerstörung durch zwei Weltkriege ein friedliches und kooperatives Europa zu schaffen. Die Skulptur erinnert an die Werte und Grundsätze der EU, darunter Frieden, Solidarität und Zusammenarbeit.

Das Buch als materielles und kulturelles Objekt stand immer schon im Mittelpunkt der Arbeit von Claudine Heili. Im Jahr 1991 gewann Heili den europäischen Preis für das Buchobjekt mit diesem Werk: Poésies européennes (1991). Diese künstlerische Besonderheit ist das Ergebnis eines ehrgeizigen Unterfangens, in dessen Rahmen Heili die europäische Dichtungstradition untersuchte. In diesem Buch sind 15 europäische Regionen und Kulturen vertreten. Für jede Kultur wählte Heili einen oder mehrere berühmte Schriftsteller und Auszüge aus deren Werken aus, die das dichterische Erbe der jeweiligen Kultur verkörpern. Auf dem Einband schön zu sehen ist außerdem die Figur Europa aus der griechischen Mythologie, ergänzt durch den Kopf des Stiers als Relief auf dem zerbrechlichen Glasgehäuse.

Im Mittelpunkt von Cristóbal Gabarróns künstlerischer Arbeit steht der Gedanke des Zusammenlebens und der Stärkung menschlicher Werte. Mit seiner Kunst ist Gabarrón Teil der weltweiten Bewegung für Einheit und Zusammenarbeit. Seine Werkserie mit dem Titel Twelve European Muses (1992) setzt sich aus zwölf Skulpturen aus Holz zusammen: La Meuse / Belgium, Bjarke / Denmark, Tijg / The Netherlands, Kells / Ireland, Il Risorgimento / Italy, Pleyade / France, Minnesänger / Germany, Sophos / Greece, Mosela / Luxembourg, Lusíadas / Portugal, Elegia II / Spain, Brunanburh / United Kingdom. Damit bezieht er sich auf die Musen aus der antiken griechischen Mythologie, die als Quellen und Wegweiser der Inspiration für verschiedenste Entdeckungen und Schöpfungen galten – von den Wissenschaften bis hin zur Kunst. Diese Figuren, in der gesamten europäischen Kunstgeschichte präsent, erfreuten sich während der Wiederbelebung der klassischen Antike zu Zeiten der italienischen Renaissance besonderer Beliebtheit. Cristóbal Gabarróns „europäische“ Musen, die subtil auf die Besonderheiten und traditionelle Geografie der einzelnen Länder anspielen, beziehen sich auf die zwölf Mitgliedstaaten, die zu der Zeit, als Gabarrón sein Werk schuf, Teil der Europäischen Gemeinschaft waren.

Vor allem aber zeigen diese Skulpturen menschliche Figuren. Gabarrón sagt darüber selbst, dass er nie ein großer Freund davon gewesen sei, die Bedeutung hinter einem Werk zu enthüllen. Es ginge ihm eher darum, mit seiner Kunst die Fantasie anzuregen. Besonders interessant ist dabei sein Umgang mit Farbe: Seine Skulpturen wirken dank der lebhaften und satten Farben poetisch aufgeladen. Der französische Philosoph und Kunstkritiker Pierre Restamu bezeichnete Cristóbal Gabarrón sogar als „großen Humanisten der Farben“. Die Serie „Twelve European Muses“ ist vielsagend: Obwohl jede Skulptur im Raum unbestreitbar greifbar ist, sprechen die farbliche und grafische Anordnung dafür, die Figuren bevorzugt von vorne zu betrachten. Ähnlich ist es in einem anderen berühmten Werk von ihm zur europäischen Nachbarschaft in Brüssel namens „Enlightened Universe“, das im Jahr 2015 anlässlich des 70. Jahrestags der Gründung der Vereinten Nationen installiert wurde. Bunte menschenähnliche Silhouetten, die den „Musen“ aus der Sammlung des Europäischen Parlaments ähneln, halten sich um einen zentralen Globus an den Händen und formen dabei eine Menschenkette, die Weltbürgertum, Solidarität, Toleranz, Respekt vor der Natur und vor der gemeinsamen Verantwortung vereint.

Was Menschenrechte und Demokratie verbindet

So ähnlich ist es auch bei Cathy Carman, die den menschlichen Körper als ein Instrument zur Aufzeichnung einer Geschichte betrachtet. Genau genommen meint sie damit konkret „die“ Geschichte, und das bedeutet implizit, dass das Verstehen des menschlichen Körpers das Verstehen seines Selbst ermöglicht. Carmans Skulptur aus Bronze mit dem Namen Masquerade (1992), ist dabei stark expressionistisch. Es ist der Versuch. ein Gefühl der Haptik zu erzeugen und dieses für das Publikum wahrnehmbar zu machen. Die Figur steht auf einem wellenförmigen Untergrund, der den inneren Zustand des dargestellten Körpers widerspiegelt. Es ist ein Körper der vor Schmerz, Verlust und existenzieller Krise schreit.

Die Demokratie: ein empfindliches Gleichgewicht

Seraphita (1989) von Rui Sanches besteht aus zwei abstrakten Figuren, ausgestattet mit einer Stange, die sich spiegelbildlich in Konfrontationsstellung gegenüberstehen. Es wird nicht deutlich, ob es sich um die Szene eines Kampfes oder eines Tanzes handelt. Aber die Symmetrie erzeugt, trotz des trennenden Abstands, eine unsichtbare Brücke zwischen den Figuren. Dieses zerbrechliche Verhältnis erinnert an die Demokratie, die auf verschiedenen, miteinander verbundenen Elementen und Institutionen beruht, die in Harmonie zusammenarbeiten, aber leicht durch äußere Einflüsse gestört oder beschädigt werden können.

Seraphita ist übrigens ein fiktiver Charakter, der aus dem 1835 veröffentlichten gleichnamigen Roman des französischen Autors Honoré de Balzac stammt. Darin hinterfragt Seraphita die traditionellen Geschlechterkategorien, verwischt die Grenzen zwischen männlich und weiblich und überschreitet die physischen Welt. Seraphita ist ein androgynes Wesen, dass männliche und weibliche Eigenschaften vereint. Sie kann Merkmale beider Geschlechter verkörpern, wodurch eine Trennung zwischen männlich und weiblich schwer wird. Seraphita hat ein mystisches Verständnis der Dualität und Einheit der Geschlechter – ein wahres spirituelles Erwachen bedeutet also, von der Gesellschaft geschaffene Grenzen zu überwinden. Seraphitas geschlechtsbezogene Mehrdeutigkeit kann auch als Symbol für die Suche nach dem Ganzen und als Reflexion über den mystischen Weg zum Göttlichen gelesen werden. Die harmonische Verschmelzung von Gegensätzen, z. B. von Männlichem und Weiblichem, die Sanches hier mithilfe dieser abstrakten, gespiegelten Figuren darstellt, steht für die Vereinigung der Gegensätze in unserem Inneren und für das Streben nach einer überweltlichen, spirituellen Erfahrung.

Ovidiu Maitec wird häufig mit dem rumänischen Künstler Constantin Brâncuși verglichen, der aufgrund seiner kulturellen Herkunft und seines gewählten Mediums als einer der einflussreichsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts gilt. Hinzu kommt, dass die beiden Emigranten außerhalb ihres Heimatlandes beruflich Fuß gefasst haben. Während des Kommunismus gehörte Ovidiu Maitec zu den wenigen rumänischen Kunstschaffenden, die trotz geografischer und politischer Trennlinien reisen durften. In den 1960er Jahren wandte er sich abstrakten Holzschnitzereien zu, die politisch aufgeladen waren. Mit Equilibrium (2000)” gelang es ihm, die archaische Kraft des Holzes mit der Faszination für die heutige technologische Revolution in Einklang zu bringen. Im Gegensatz zu kalten industriellen Formen, die oft mit der Integration von Technologie in Skulpturen einhergehen, verfolgte Ovidiu Maitec einen sanfteren Ansatz. Das Gefühl von konstruierter Dauerhaftigkeit ergänzt hier die Symbolik von Balance und Gleichgewicht, die Maitec unermüdlich variierte „Equilibrium“ verkörpert den Gipfel seiner Forschung mit Langlebigkeit, Symmetrie und Proportionalität, die aus einem Werk hervorgehen, das sich so liest wie ein politisches Statement.

3D>HTML< / Unlimited Book (2010) von Andrea Pézmans steht im Gegensatz zu zeitgenössischen Kunstwerken, die mithilfe modernster Technologien geschaffen werden. Dieses Werk bietet uns paradoxerweise eine auf Papier geschriebene Anleitung zur Erstellung digitaler Webseiten. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Enden der einzelnen Papierstreifen miteinander verbunden sind, sodass der Anfang und das Ende jedes Textes aufeinandertreffen. Dieses „Buch“ wird so zum Symbol einer Geschichte, die sich unendlich wiederholt – ein Möbiusband, das in zweierlei Hinsicht paradox ist, da das zweidimensionale Objekt dreidimensional wird. Diese Form wird manchmal als „unmöglich“ bezeichnet, da sie so in der Natur nicht auftaucht. Stattdessen nutzten Menschen Möbiusbänder für ihre Erfindungen, z. B. Kassetten mit Endlosbändern, Farbbänder für Schreibmaschinen sowie Druckerpatronen.

Die Widerstandsfähigkeit der Demokratie in einer Welt im Wandel

In einer sich schnell wandelnden Welt stellt die Klimakrise mit ihren verheerenden weltweiten Auswirkungen bekanntlich die größte Bedrohung für die Menschenrechte dar. Mihai Topescu zeigt mit seiner Skulptur aus Glas namens Fabulous Fish (2010) die neuen Schwierigkeiten, mit denen die Natur zum Überleben konfrontiert ist. Durch das Glas verbindet Mihai Topescu nicht nur das üppige Wesen der Bildhauerei mit der farblichen Qualität der Malerei in einer durchsichtigen Hülle der Zerbrechlichkeit, sondern macht auch sichtbar, dass die Natur selbst zerbrechlich ist.

Die Bildhauerin Anna Hulačová lässt sich sowohl in den Materialien, die sie verwendet, als auch in den dargestellten Formen und Details von der tschechischen Volkstradition inspirieren. Diese Inspiration überträgt sie in die Sprache der zeitgenössischen Kunst. Ihre Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie in ihrer Form und Thematik vielfältig ist und einen Bezug zur Vergangenheit herstellt. Im Gegensatz zu den Vorgängern aus der Klassik ist Kooperace 3 / Cooperation 3 (2020) aus Beton gefertigt – ein Merkmal des Brutalismus, das auf die hybride Natur unserer Zeit verweist, in der scheinbar entfernte oder sogar entgegengesetzte Formen verschmelzen und zu einer neuen Realität mutieren. Die Grautöne lassen das Werk apokalyptisch wirken und erinnern daran, dass Materialität sowie körperliche Begegnungen und Erfahrungen in unserer schnelllebigen Welt noch nicht aus der Mode gekommen sind.

Nesting Site (2018) von Sabine Groß ist ein beeindruckender 2,5 m hoher Turm aus fünf übereinander gestapelten Epoxidharzwürfeln. Diese postminimalistische Skulptur stellt den Nistplatz einer imaginären Insektenkolonie dar, die einen stark industrialisierten Raum besiedelt hat. Dabei wird vor Augen geführt, dass Tiere sich – manchmal durch Zerstörung – anpassen müssen, um Platz in einem natürlichen Umfeld zu finden, das seinerseits von Menschen besiedelt oder zerstört wurde. Der Bruch im Ökosystem zeigt sich hier durch die Zersetzung der hochglänzenden industriellen Oberfläche. Ein Riss, der sofort ins Auge fällt und sich durch den ansonsten makellosen Turm zieht. Die Natur dringt hier in den Kontext der Kunst ein. Groß stellt mit Nesting Site daher die Nachhaltigkeit, die Langlebigkeit und den Wert der Kunst in Frage: Wie sieht das Kunstwerk nach tausend Jahren aus, nachdem die Natur ihre Spuren hinterlassen hat? Was bleibt erhalten? Was weiß man dann noch über den kulturellen Wert eines Kunstwerks? Oder ist der reine Materialwert alles, was übrig bleibt?